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Was ist schon normal? Der 42-jährige HR-Fachmann Martin Fankhauser hat sich dieser Frage gestellt und ein ganz spezielles Fotoprojekt gestartet. Es zeigt Menschen mit unterschiedlichsten psychischen oder physischen Beeinträchtigungen, die von aussen nicht sichtbar sind. Es ist sein Ziel, damit zur Entstigmatisierung und Normalisierung dieser Krankheiten beizutragen.
Martin, du nennst dein Fotoprojekt #ganzabNORMAL. Weshalb?
Der Titel soll bewusst doppeldeutig und provokativ daherkommen. Dieses Wortspiel symbolisiert den Widerspruch, dass jemand entweder psychisch krank oder normal ist. Deshalb stelle ich die Frage, ob wir nicht alle irgendwie ganz abNORMAL sind. Jede zweite Person macht einmal in ihrem Leben eine psychische Krisenerfahrung durch. 9 von 10 kennen jemanden, der psychische Probleme hat. Sie kommen häufiger vor als man gemeinhin denkt.
Ja, ich leide seit einigen Jahren selbst an psychischen Beeinträchtigungen wie Depressionen, Angststörungen und Selbstunsicherheiten. Meine Probleme haben sich schleichend entwickelt. Schon als Kind fühlte ich mich oft ängstlich und unsicher. Ich grübelte an den verschiedensten Dingen herum und hatte deswegen Schlafprobleme. Lange ging das irgendwie gut und ich habe auch Strategien entwickelt, meine persönliche Befindlichkeit gegen aussen zu verbergen. Nicht einmal meine Freunde merkten es, wenn es mir einmal nicht gut ging. Im Ausgang war ich als derjenige bekannt, der lustig und immer gut drauf war. Diese Fassade begann jedoch zu bröckeln, bis ich mit 37 Jahren feststellen musste, dass irgendetwas mit mir ganz und gar nicht mehr stimmte. Ich verlor jegliche Lebensfreude und fühlte mich auch bei der Arbeit überfordert. Mein Hausarzt überwies mich an eine Psychiaterin und ich startete eine Gesprächstherapie kombiniert mit Medikamenten. Verschiedene Untersuchungen und Tests ergaben die Diagnosen einer mittelschweren Depression, einer generalisierten Angststörung und einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung.
Anfänglich habe ich mich geschämt, darüber zu sprechen. Ich war jedoch auch sehr froh, dass meine Leiden endlich einen Namen hatten und habe gespürt, wie viel Druck wegfällt, wenn Freunde und Familie über meine Krankheit Bescheid wissen.
Sie bewirkt, dass man sich ständig unsicher, minderwertig und besorgt fühlt. Rückblickend macht für mich diese Diagnose fast am meisten Sinn. Tatsächlich litt ich unter Selbstzweifeln und Insuffizienzgefühlen. Wenn mir Arbeitskolleg:innen ein Kompliment machten, konnte ich nichts damit anfangen, es kam bei mir gar nicht an. Die Glaubenssätze «ich genüge nicht, ich bin weniger» waren einfach zu stark.
Ich habe meine direkte Vorgesetzte und mein Team sehr offen informiert und sie haben mit grossem Verständnis reagiert. Gleichzeitig habe ich jedoch auch grosse Berührungsängste wahrgenommen. Man wollte mich unterstützen, wusste jedoch nicht recht wie.
Ich habe vielleicht einen extremen Weg gewählt: mit meinen psychischen Problemen an die Öffentlichkeit zu gehen. Eigentlicher Türöffner war die Sendung «Rehmann S.O.S. – Sick of Silence», in der Robin Rehmann Menschen mit psychischen oder körperlichen Erkrankungen einlädt, um offen über ihr Schicksal zu sprechen. Das Format wird auf Radio SRF Virus, YouTube und als Podcast ausgestrahlt. Ich habe dort mitgemacht, weil ich Robin von früher kannte und dachte, dass er mich verstehen würde. Nach der Sendung fühlte ich mich sehr befreit und erleichtert. Die vielen positiven und ermutigenden Rückmeldungen bestärkten mich in meiner Überzeugung, dass es einen ehrlichen Dialog über psychische Gesundheit geben sollte. Es war für mich ein Aha-Erlebnis: wenn ich sagen kann, wie es mir wirklich geht, dann komme ich mir viel weniger komisch oder alleine vor und auf diese Weise sind auch andere Menschen bereit, sich mir gegenüber zu öffnen.
Noch während der Gesprächstherapie habe ich meine Leidenschaft fürs Fotografieren entdeckt. Ich bewege mich sehr gerne in der Natur. Deshalb kam ich auf die Idee, mein Unterwegssein fotographisch zu dokumentieren. Sehr bald wollte ich auch Menschen proträtieren, wusste jedoch nicht, wie ich sie ansprechen sollte. Leute für ein Hobbyshooting zu begeistern, wie macht man das? Auch kamen mir hier wieder meine Unsicherheiten und Komplexe in die Quere. Ich war doch nur ein mittelmässiger Hobbyfotograf – die meisten anderen würden das besser machen – und wie unsicher würde ich mich fühlen, wenn jemand Fremdes vor meiner Kamera steht und schöne Bilder erwartet.
Vor knapp zwei Jahren bin ich dem Netzwerk MADNESST («verrücktes Nest») beigetreten. Bei MADNESST sind Menschen aktiv, die diagnostizierte psychische Krisenerfahrungen haben und mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gehen. Wir legen den Wert aber nicht auf die Vergangenheit, die Krankheit, sondern haben alle auf unterschiedlichste Arten einen kreativem Umgang mit unsern Krisen entdeckt. Also sehr nach vorne gerichtet. Wir möchten so alle Menschen für das Thema psychische Gesundheit sensibilisieren. Über dieses Netzwerk kam ich auch an meine ersten Kontakte für mein Fotoprojekt.
Ich treffe die Menschen zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung. Wir trinken einen Kaffee und tauschen uns aus, bevor ich fotografiere. Ich nehme mir für die Gespräche viel Zeit. Die Leute vertrauen mir ihre Krisenerfahrungen und traumatischen Erlebnisse an, das erfordert meinerseits viel Einfühlungsvermögen. Sie sprechen über Depressionen oder Angst- und Panikstörungen bis hin zu tabuisierten körperlichen Krankheiten. Weil ich selber sehr offen mit meiner Geschichte umgehe, gibt es eigentlich keinerlei Berührungsängste und es ist von Anfang an eine Vertrautheit da. Die Begegnungen sind gegenseitig wertvoll.
Ja, ich mache pro Person immer zwei Aufnahmen. Ein Schwarzweissfoto mit einem glücklichen und ein farbiges mit einem eher traurigen oder nachdenklichen Ausdruck. So ergibt sich ein interessanter Kontrast. Neben den beiden Porträtbildern gibt es zwei Texttafeln mit einem Steckbrief mit Stichworten nach Angaben der Person sowie eine kurze Beschreibung ihrer Erkrankung. Mit diesem Konzept möchte ich den Betroffenen Mut machen und gleichzeitig gegen Vorurteile und Stigmatisierung eintreten. Mein Hauptaspekt dabei: Wir sind viel mehr als eine Diagnose und «ganzabnormal» zu sein sollte eben ganz normal sein. Angefangen habe ich im Juni 2021. Mittlerweile habe ich an die 70 Gespräche und Porträts erstellt. Zuerst war alles rein online, auf Facebook und auf Instagram. Seit Mai 2022 zeige ich 33 Protagonist:innen (mit je zwei Bildern pro Person) auch in einer physischen Ausstellung. Ich will alle Menschen erreichen, auch solche, die zum Thema vielleicht gar keinen Bezug haben oder nicht auf Social Media unterwegs sind.
Die Einsatzmöglichkeiten gehen bis ins Unendliche, von Kulturlokalen über Geschäfte, Bars, öffentliche Institutionen, Firmen, Kliniken, Wartezimmern bis hin zu Apéros oder Gesprächsrunden. Die Bilder habe ich im A4-Format auf Hartschaumtafeln ausgedruckt. Das hat den Vorteil, dass diese «klassische» Ausstellung recht handlich ist. Ich kann die Ausstellungsobjekte selber transportieren und bin damit mit meinem GA schweizweit erfolgreich unterwegs.
Ich fühle mich stabil und habe mit meinen Herausforderungen einen guten Umgang gefunden. Durch das Fotoprojekt habe ich viele Bekanntschaften gemacht und es sind auch Freundschaften entstanden. Zudem hat das Projekt selbst auch meine Selbstsicherheit gestärkt.
Schämt euch nicht für eure Krankheit und Störungen. Akzeptiert das, sucht euch professionelle Hilfe und bezieht eure Liebsten mit ein.