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«Glaube gibt Orientierung»

Welche Rolle spielen Religiosität und Spiritualität in der heutigen Gesellschaft? Wenn die Kirchenmitglieder oder Gottesdienstbesuche abnehmen, verschwindet dann auch die Religion? «Nein», sagt die Theologin Isabelle Noth: «Die Erscheinungsformen des Religiösen verändern sich nur, hin zu einer stärkeren Individualisierung und Pluralisierung».

Isabelle Noth 08 F Bachmann

Frau Noth, Sie sind Theologin und Religionspsychologin. Zuerst die Frage: Was ist Theologie eigentlich?

Christliche Theologie ist die wissenschaftliche Reflexion des christlichen Glaubens. Sie beschäftigt sich aus einer Innenperspektive mit ihrem Forschungsgegenstand. Sie untersucht Fragen wie: In welchem Licht interpretieren wir biblische Texte? Wie stellen wir uns Gott vor? Was wollte Jesus? Wie definieren wir Glaube? Wieso feiern wir Gottesdienste? Was ist Seelsorge? Darauf versucht Theologie Antworten zu finden und Rechenschaft abzulegen. Theologie stellt keine simplen Behauptungen auf, sondern versucht gute Gründe zu liefern, warum es vernünftig ist, von der Existenz Gottes und der Stimmigkeit des christlichen Glaubens auszugehen und von ihm her Orientierung zu gewinnen.

Und wie würden Sie Religionspsychologie beschreiben?

Religionspsychologie nimmt eine Aussenperspektive ein und versucht möglichst wertneutral das religiöse Erleben und Verhalten von Menschen zu untersuchen. In der Religionspsychologie geht es nicht darum, die Wahrheit oder Richtigkeit bestimmter religiöser Überzeugungen zu bewerten, sondern vielmehr die psychologischen Aspekte von Religion und Spiritualität zu erforschen und zu verstehen. Was macht Religion mit den Menschen und was machen die Menschen mit der Religion. Religionspsychologie ist ein interdisziplinäres Fachgebiet, welches an der Schnittstelle primär zwischen Psychologie, Religionswissenschaft und Theologie einzuordnen ist.

Mit welchen Fragen beschäftigen Sie sich als Religionspsychologin?

Wichtige Fragen sind etwa: Wie entsteht religiöser Extremismus? Welche psychologischen Faktoren spielen bei der Radikalisierung eine Rolle? Wie beeinflusst Religion die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden? Welche Rolle spielt Religion bei der Bewältigung von Stress, Traumen oder Krankheit? Wie entstehen religiöse Überzeugungen bei Menschen? Welche psychologischen und sozialen Faktoren beeinflussen die Entwicklung von Glaubenssystemen? Weshalb sind religiöse Gruppen manchmal Zielscheiben von Vorurteilen und Diskriminierung? Aber auch: Inwieweit macht der Wahrheitsanspruch von Religionen religiöse Menschen für Vorurteile anfälliger? Das sind nur einige Beispiele.

Wie entsteht religiöser Glaube?

Die Entstehung von religiösem Glauben ist ein individueller und subjektiver Prozess. Ein wichtiger Faktor dabei sind soziale Einflüsse. Der Glaube an eine bestimmte Religion wird oft von den Eltern, der Familie und der sozialen Umgebung geprägt. Kinder müssen sich mit Religion auseinandersetzen können und die Geschichten der Bibel kennenlernen dürfen. So können sie eigene Erfahrungen in ihrem Glaubensleben machen und sich damit intensiv auseinandersetzen. Auch die Suche nach Sinn und Identität kann die Entstehung von Glauben begünstigen. Glaube kann eine Antwort auf grundlegende Fragen nach dem Sinn des Lebens, der menschlichen Existenz und dem eigenen Selbstverständnis bieten. Religion kann Menschen helfen, Bedeutung und Orientierung in ihrem Leben zu finden und ihre Identität zu formen.

Was ist der Unterschied zwischen Glauben und Spiritualität?

Ich mache es gerne einfach und fasse Studien zu dieser Frage so zusammen: Wenn Menschen von Glauben sprechen, dann verbinden sie das häufig mit Institution, mit Dogmen, mit Glaubenssätzen und Kirchen. Spiritualität hingegen verbinden sie gerne mit Geist, Natur, Meditation und mit Freiheit. Soweit ganz grob, was unter diesen zwei Begriffen verstanden wird. Als Wissenschaftlerin sage ich jedoch, dass Spiritualität immer schon auch ein Bestandteil von Religion war. Religion hat zu tun mit etwas Transzendentem, mit etwas, das unsere Welt übersteigt, mit Gott oder Göttern, mit Wesenheiten, die unverfügbar sind, mit denen wir aber einen Austausch pflegen können z.B. durch das Gebet oder die Meditation.

Wenn ich jemanden als religiös beschreibe, was meine ich damit?

Es kommt darauf an, welche Kriterien man für Religiosität verwendet. Wie misst man Religiosität? Gerne wird dies am Besuch des Sonntagsgottesdienstes festgemacht, aber da hätten wir fast keine religiösen Menschen mehr. Viele Menschen fühlen sich zur Kirche bzw. zu dem, was sie vermitteln möchte, irgendwie zugehörig, auch wenn sie nie oder selten in die Kirche als Gebäude selber gehen. Glaube, Religion und Religiosität manifestieren sich heute nicht primär im Gottesdient. Es gibt eine Vielfalt von Möglichkeiten, Religiosität zu leben, auch ausserhalb der Kirchenmauern.

Was macht gläubige Menschen aus?

Religiosität und Glaube haben primär mit einer inneren Haltung bzw. Einstellung zu tun. Sie sind Ausdruck tiefer Überzeugungen, Werte und Verstehensweisen einer Person. Wenn wir jetzt vom christlichen Glauben sprechen, dann sind zentrale Inhalte die Gottesbeziehung und die Bindung an Jesus Christus. Was hat er gepredigt? Wie sah er den Menschen und wie begegnete ihm Gott? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist eine Form von gelebtem Glauben und Religiosität.


Isabelle Noth 08 F Bachmann

Was gibt der Glaube an Gott?

Orientierung. Der Glaube an Gott kann Menschen in Zeiten von Leid, Schmerz und Verlust Kraft und Hoffnung geben. Er kann eine Quelle des Trostes und der Zuversicht sein, dass es eine höhere Macht gibt, die ihnen beisteht, selbst in schwierigsten Umständen. Glaube gibt mir die Überzeugung, dass das Leben auch dann lebenswert ist, wenn alles sinnlos scheint, wenn Lasten und Enttäuschungen den Alltag schwer machen. In gewisser Weise bedeutet Glaube ein Akzeptieren im Leben. Durch den Glauben kann es möglich werden, Vorkommnisse und Geschehnisse in etwas Grösseres einzubetten. Leid lässt sich oftmals nicht erklären, aber wir können lernen, damit zu leben und weiterzuleben.

Leben wir heute zunehmend in einer säkularen Gesellschaft?

Religionssoziolog:innen haben sogenannte Säkularisierungstheorien entworfen. Diese besagen, dass Religion und Moderne nicht zusammenpassen und Religiosität mit zunehmender Aufgeklärtheit und Wissen unweigerlich abnehmen werde bis zur Irrelevanz, die Gesellschaft sich also säkularisiere. Das ist so nicht eingetroffen und heute favorisiert man Pluralisierungstheorien.

Weshalb?

Sicher ist die Zahl der Kirchenaustritte besorgniserregend und dieser Prozess der Entkirchlichung ist noch nicht abgeschlossen. Eine Studie, welche Prof. Dr. Stefan Huber vom Institut für empirische Religionsforschung der Universität Bern gemacht hat, kommt jedoch zum Ergebnis, dass der Glaube an Gott, Religiosität und Spiritualität nicht verschwinden. Die Erscheinungsformen des Religiösen verändern sich nur, hin zu einer stärkeren Individualisierung und Pluralisierung. Das heisst, wir haben unterschiedliche Weltanschauungen, unterschiedliche Zugehörigkeiten, Multireligiosität, einfach eine grosse Vielfalt, aber nicht das Ende von Religion und Religiosität.

Können Sie sich erklären, weshalb so viele Menschen aus der Kirche austreten?

Die Gründe sind vielfältig. Wir leben im Moment in einer Zeit, in der Menschen allgemein kritisch gegenüber Institutionen eingestellt sind und sich auch nicht gerne verpflichten lassen und binden möchten. So sind es auch nicht nur die Kirchen, die schrumpfen. Auch Gewerkschaften, Personalverbände, Vereine und politische Parteien kämpfen mit sinkenden Mitgliederzahlen und Nachwuchsmangel. Die Menschen streben zunehmend nach Autonomie und Selbstbestimmung, wollen sich nicht durch verpflichtende oder verbindende Zugehörigkeiten einengen lassen. Es findet auch ein Traditionsbruch statt: Die Weitergabe des Glaubens von der Elterngeneration auf die Kinder funktioniert nicht mehr richtig.

Was heisst dies nun für die kirchliche Arbeit?

Kirchen und religiöse Organisationen müssen ihre Herangehensweise anpassen, um den veränderten Bedürfnissen und Vorstellungen der Menschen gerecht zu werden. Sie müssen offen sein für Veränderungen und sich auf individuelle Erfahrungen und Bedürfnisse konzentrieren. Die Kirchen müssen aktiv auf die Menschen zugehen und ihnen den Raum geben, um sich in ihrem eigenen Glauben zu entfalten. Dann können sie auch weiterhin eine wichtige Rolle im Leben vieler Menschen spielen und ihre spirituelle Suche begleiten und unterstützen.

Eine Schweiz ohne die Institution Kirche: Was würde dies für die Gesellschaft bedeuten?

Es wird nicht so weit kommen, irgendwann wird sich die Mitgliederentwicklung in den Religionsgemeinschaften auf einen gewissen Sockel einpendeln. Die Landeskirchen erbringen wichtige Leistungen zu Gunsten der Gesamtgesellschaft. Ehrenamtliche und freiwillige Mitarbeitende leisten Kinder- und Jugendarbeit, sorgen für Betagte oder betreuen sozial Schwache. Auch Bildung, Kultur oder Entwicklungsarbeit gehören zu den Bereichen, in denen Menschen aus der Kirche aktiv sind.

Wird dies auch anerkannt?

Ja, ich denke schon. Sie müssen ihr Engagement jedoch mehr sichtbar machen. Zum Beispiel die Kirchliche Gassenarbeit Bern. Sie kümmert sich um Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben oder haben wollen. Der grösste Teil dieser Arbeit wird von der Kirche finanziert. Wer abends durch die Berner Innenstadt schlendert, trifft nicht selten obdachlose Personen an. Menschen, welche in den Lauben in Schlafsäcke gehüllt übernachten oder sich eine Parkbank als Schlafplatz ausgesucht haben. Diese Situation wirft in einem wohlhabenden Land wie der Schweiz Fragen auf. Oder die Dargebotene Hand, welche mit dem Sorgentelefon 143 und der Onlineberatung Menschenleben retten kann. Durch die freiwillige und ehrenamtliche Tätigkeit vieler Menschen in kirchlichen Angeboten spart der Staat viel Geld. Aber das Entscheidende ist, dass die Orientierung und Sichtweisen, die Kirchen vermitteln können, nämlich wie es sich in dieser Welt als Mensch überhaupt leben lässt, wichtiger sind denn je.


Isabelle Noth 08 F Bachmann

Isabelle Noth ist Co-Direktorin des Instituts für Praktische Theologie und Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik an der Univeristät Bern.

(Bild: Florian Bachmann) 

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