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Das Corona-Virus stellt uns alle auf eine harte Probe. Im Zuge der Pandemie hat sich die Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft verschärft. Menschen radikalisieren sich durch Verschwörungstheorien und verlieren den Bezug zur Realität verlieren. Der Sozialwissenschaftler Marko Kovic sieht in dieser Entwicklung eine Gefahr für unsere Demokratie und fordert, dass die sozialen Medien bei der Verbreitung von Hassreden und Desinformation durch Gesetze zur Verantwortung gezogen werden.
Marko, du schreibst auf deiner Webseite: «Ich mache mir Gedanken darüber, wie die Gesellschaft funktioniert und, wie sie funktionieren sollte.» Wenn du heute auf die Gesellschaft weltweit und in der Schweiz schaust: Was läuft gut und was nicht?
Zuallererst möchte ich betonen, dass ich kein Pessimist bin und alles nur schwarzsehe und Schlimmes befürchte. Es lohnt sich, die demokratischen Werte mit aller Kraft zu verteidigen. Es hat jedoch in den letzten Jahrzehnten gesellschaftliche Entwicklungen gegeben, die mich sehr nachdenklich machen.
Beispielsweise die sozialen Ungleichheiten zwischen den Menschen. Das betrifft auch die Schweiz. In wenigen Händen kumuliert sich immer grösserer Reichtum und gleichzeitig fristet ein beachtlicher Teil der Bevölkerung ein Dasein am Rande des finanziellen Ruins. Die Armut oder Armutsgefährdung haben hierzulande spürbar zugenommen.[1] Diese Entwicklung hat sich durch die Corona-Pandemie nochmals verstärkt.[2] Wir müssen uns kollektiv Gedanken darüber machen, wie wir materielle Ungleichheit reduzieren können.
Als weiteres Problem sehe ich die Online-Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung. Hier sprechen wir von einem weltweiten Phänomen, welches zu einer zunehmenden Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft führt. Treiber dieser Entwicklung sind die Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter, YouTube, Instagram und wie sie alle heissen.
Eine Verschwörungstheorie soll eine Erklärung für einen bestimmten Zustand oder ein bestimmtes Ereignis liefern. Diese Erklärung beinhaltet ein paar Elemente. Sie behauptet erstens, dass die gängige Erklärung für ein bestimmtes Ereignis auf jeden Fall falsch ist, dass zweitens ein Individuum oder eine Gruppe hinter dieser Erklärung steckt, dass drittens die Leute, die die Verantwortung für ein Ereignis tragen, den Menschen schaden wollen und dass viertens diese Verantwortlichen irgendeinen Vorteil aus ihrem Tun ziehen.
Wir alle sind empfänglich für Verschwörungstheorien. Das sage ich ganz dezidiert. Verschwörungstheoretiker sind nicht nur Esoteriker und Spinner. Menschen haben generell Mühe, Ereignisse zu verarbeiten, die gross und wichtig sind und auf die sie keine richtige Antwort finden. Das Unerwartete und Unvorhersehbare einem Zufall zuzuschreiben, widerspricht unserem Bauchgefühl. Es verlangt uns nach Kausalität. Wir wollen wissen, wer für einen Zustand oder ein Ereignis die Verantwortung trägt. Wenn uns eine Verschwörungstheorie eine vermeintliche Antwort auf unsere Fragen geben kann ist die Versuchung gross, an diese zu glauben. Selbst dann, wenn sie keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhält.
Ja, die gibt es. Ich denke da beispielsweise an einen niedrigen sozioökonomischen Status. Solche Menschen sind nicht dumm, aber sie leben in schwierigen Umständen. Unterdurchschnittliche Einkommensverhältnisse gepaart mit fehlenden beruflichen Entwicklungschancen führen zu einem Gefühl des Ausgeschlossenseins. Es sind Menschen, die sich von den politischen Entscheidungsträgern und der Gesellschaft nicht wahrgenommen und eben auch nicht mitgenommen fühlen. Sie haben den Eindruck, dass irgendetwas im System falsch läuft. Und da haben sie ja auch recht. Armutsbetroffene verfügen über keine Lobby, die sich für ihre Anliegen einsetzt. Und deshalb sind Verschwörungstheorien oft der einzige Strohhalm, an dem sie sich festklammern können.
Grundsätzlich geht von allen Verschwörungstheorien eine gewisse Gefahr aus, weil sie irrationale Denkmuster beinhalten. Eine besondere Gefahr geht jedoch von Verschwörungserzählungen aus, die Prognosen über die Zukunft machen. Solche haben gerade im Corona-Kontext an Bedeutung zugenommen. Als Beispiel können wir die kürzlich von verschiedenen Verschwörungstheoretikern gemachte unseriöse Impfprognose anführen, dass es im September 2021 zu einem Massensterben von gegen COVID-19 geimpften Menschen kommen würde. Das ist bekanntlich nicht eingetroffen, hat jedoch viele Leute verängstigt, mobilisiert und radikalisiert.
Das ist ein sehr spannender Punkt. Man würde ja denken, dass fehlgeschlagene Prophezeiungen die Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien zur Vernunft bringen und ihnen klarmachen würden, dass sie falschen Propheten nachgelaufen sind. Aber genau das passiert eben nicht. Den allermeisten fällt es schwer, sich den eigenen Irrtum einzugestehen. Dieses Phänomen können wir auch bei Sekten beobachten. Die Realität ist für die meisten Gläubigen kein Grund, vom Glauben abzufallen. So auch bei Verschwörungsgläubigen: Sie finden Mittel und Wege, die falsche Prognose zu rechtfertigen und die Tatsachen entsprechend anzupassen, damit sie auch weiterhin an eine bestimmte Theorie glauben können.
Auf den ersten Blick erscheinen 30 Prozent als nicht wirklich viel. Diesen Wert kennen wir auch aus früheren Studien zu anderen Verschwörungstheorien. Aber gerade im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sind ein Drittel sehr bedenklich. Covid-19 bedroht alle Menschen weltweit. Wer sich nicht impfen lässt und auch die Schutzmassnahmen ablehnt, gefährdet die Gesundheit vieler und stellt sich gegen das Wohl der gesamten Gesellschaft.
Sie ist heterogen mit einem Überhang im rechtskonservativen Lager. Wenn führende Personen aus der Schweizerischen Volkspartei öffentlich von einer Corona-Diktatur sprechen, hat dies natürlich eine gewisse Dynamik und bleibt nicht ohne Konsequenzen. Es glauben jedoch längst nicht alle Massnahmenkritiker bei Corona an eine Verschwörung. Es gibt solche, denen ist die Pandemie einfach egal und sie sagen: «Die Leute sollen sterben oder auch nicht, aber ich will meine Freiheit zurück.» Diese Aussage ist zwar moralisch absolut falsch, aber sie ist nicht Ausdruck eines Verschwörungsglaubens. Dennoch liegt auch bei solchen Argumenten das Verschwörungstheoretische nicht fern, indem Covid-19 oft als mediale Propaganda oder bewusste Panikmache abgetan wird. [3]
«Dem militanten Kern der Massnahmen-Kritiker diente der Sturm aufs Kapitol als Vorbild. Auch sie wollen ins Zentrum der Macht und dabei ist ihnen jedes Mittel Recht.»
Ja, durchaus. Übrigens habe ich schon im Januar darauf hingewiesen, dass ein solcher Aufstand auch in der Schweiz passieren könnte, weil wir dieses aggressive Verschwörungspotential auch bei uns haben.[4] Bei beiden Ereignissen haben Radikale im Vorfeld in einschlägigen Social-Media- und Telegram-Gruppen konkrete Drohungen geäussert, Gewaltfantasien miteinander ausgetauscht und sich gegenseitig angeheizt. Dem militanten Kern der Massnahmen-Kritiker diente der Sturm aufs Kapitol als Vorbild. Auch sie wollen ins Zentrum der Macht und dabei ist ihnen jedes Mittel Recht.
Das denke ich nicht. Die Wut im Bauch wird bei vielen weiter brodeln, auch wenn die Massnahmen und das Impfthema nicht mehr aktuell sind. Das Gefühl, «vom System betrogen» zu werden, bleibt. In der Folge werden diese Menschen auch auf andere politische Themen emotional statt rational reagieren.
Das Internet und mit ihm die sozialen Medien haben unser Leben und unseren Alltag verändert. Facebook und Co. sind für viele von uns mittlerweile zu einem wichtigen, vielleicht sogar dem wichtigsten Fenster in die Welt geworden. Die Prozesse der Meinungsbildung und damit die Grundlagen demokratischer Entscheidungen von Bürgerinnen und Bürgern verlagern sich durch die digitale Revolution immer mehr ins Internet. Über soziale Netzwerke, Blogs und Foren kann inzwischen jede und jeder die eigene Meinung öffentlich äussern und eine Vielzahl anderer Menschen erreichen. Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen.
Wir haben gesehen, dass der Einsatz von sozialen Medien viele Schattenseiten hat und Gefahren mit sich bringt. Und da müssen wir endlich aufwachen und uns diesen Problemen widmen. Bei den Internetkonzernen haben wir es mit gigantischen, hyperkapitalistischen Unternehmen zu tun. Sie stellen ihre Profite vor die Sicherheit und das Wohlbefinden der Menschen. Ihre Macht ist riesig und sie entziehen sich bis jetzt weitgehend der Schweizer Rechtsprechung. [5]
Bisher setzte man bei den Social Media-Plattformen auf das Prinzip Selbstverantwortung und Selbstregulierung. Gemeint ist damit, dass die Plattformen gemäss ihren Standards proaktiv Inhalte identifizieren und löschen, die etwa gewalttätiges und kriminelles Verhalten fördern, die Sicherheit anderer Menschen bedrohen, als Hassrede gelten, etc.
Doch das funktioniert nicht. Das zeigt sich insbesondere beim Instant-Messaging-Dienst Telegram. Er hat sich in der Krise zu einer Schaltzentrale der Unzufriedenen und Verschwörungstheoretiker entwickelt. Das liegt vor allem daran, dass die Informationen und Postings in Gruppenchats keinerlei Regulation unterliegen. Nach Angaben von Telegram sind auf der Plattform gepostete Inhalte Privatsache und werden deshalb nicht kontrolliert oder gelöscht.
Das können und dürfen wir nicht tolerieren, denn es hat Folgen für Menschen, Demokratie und Gesellschaft. Es kann nicht sein, dass private Unternehmen immer stärker bestimmen, was die Wahrheit ist, was man sagen darf und wer überhaupt mitreden kann. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum.
In der Schweiz fehlen bisher spezifisch auf die sozialen Medien abgestimmte Gesetze. Strafbestimmungen gibt es in anderen Gesetzen. Beispielsweise verbietet Artikel 259 des Strafgesetzbuches (StGB) die öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder zur Gewalttätigkeit. Das reicht jedoch nicht. Deutschland ist da schon einen Schritt weiter. Dort gibt es ein Gesetz, welches die Anbieter sozialer Netzwerke, darunter Twitter, Facebook und YouTube, verpflichtet, rechtswidrige und problematische Inhalte innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde zu entfernen oder zu sperren.[6] Kommen die Betreiber ihren Pflichten systematisch nicht nach, drohen Bussgelder in Millionenhöhe.
Da müssen wir nun auch in der Schweiz ansetzen. Sicher stellt bei der Rechtsdurchsetzung die Internationalität der Internetkonzerne eine Schwierigkeit dar. Deshalb müssen Anbieter von Internetdienstleistungen verpflichtet werden, gegebenenfalls mit der nationalen Justiz zusammenzuarbeiten. Ein weiteres wichtiges Problemfeld stellen die Algorithmen der Digitalkonzerne dar. Das sind die Formeln, die bestimmen, welche Inhalte die Nutzer zum Beispiel bei Facebook zu Gesicht bekommen. Hier muss mehr Transparenz hergestellt werden. Sie dürfen nicht länger Geschäftsgeheimnis der Firmen sein. Denn eine Gesellschaft kann den Entscheidungsprozessen von Algorithmen nur dann vertrauen, wenn sie sie auch kennt und versteht. Sie muss wissen: wie Algorithmen funktionieren, welche Ziele mit ihnen verfolgt werden und inwiefern sie steuerbar sind. Desinformation und Hetze sollten sich nicht länger lohnen, sondern zum Geschäftsrisiko werden.
Es ist völlig absurd, dass man vor Digitalkonzernen so viel Angst hat. Das sind Unternehmen, die in der Schweiz Geld verdienen und da müssen wir auch festlegen, zu welchen Bedingungen sie das tun dürfen. Da fehlt bis jetzt in der Politik einfach der Mut zur Umsetzung.
Das ist ein Punkt, welcher mir sehr viele Sorgen bereitet. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass wir in der Schweiz in einer stabilen Gesellschaft leben und unser demokratisches System unangreifbar ist. Das ist aber ein Irrtum. Unsere Demokratie ist sehr zerbrechlich. Ich glaube, wir sind an einem Punkt, an dem vieles heikler ist, als wir uns das eingestehen wollen. Eine Demokratie funktioniert nur, wenn eine kritische Menge an Menschen in diesem Land an dieses System glaubt. Wenn jedoch genug Leute das nicht wollen und alternativen Ideen anhängen, dann wird es gefährlich. Gerade in einer Bedrohungslage wie es die Corona-Pandemie ist, nehmen autoritäre Einstellungen und der Wunsch nach einem starken Führer zu. Die Aggressionen gegenüber Andersdenkenden, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus breiten sich aus. Ich glaube, wir müssen eine gesellschaftliche Debatte anstossen: Wo stehen wir mit der Demokratie? Was können wir als Gesellschaft gegen Populismus, Radikalisierung und unlautere Propaganda tun. Und vor allem: Wie können wir diejenigen Menschen erreichen, welche sich diese Gedanken normalerweise nicht machen.